Vita – Lauf des Lebens

Mein Großvater war als junger Bursche aus Liebe mit meiner Großmutter von Masuren ins Ruhrgebiet gezogen, verzichtete als Erstgeborener auf großen Landbesitz, weil er nur so meine Großmutter heiraten konnte. Ich bewunderte ihn. Beide liebten sich sehr – genau wie meine Eltern. Das spürte ich ja täglich, weil ich mit allen Vieren meine ersten 10 Jahre gemeinsam in einer Bermannswohnung lebte. Die war KLASSE!

Alle unsere Vorfahren waren „Bauern“ in Masuren, in der Nähe von LYCK/ELK, Nahe der weissrussischen Grenze.. Das spürte ich immer und noch heute in meiner Art. Besonders, als ich, auf einer Reise mit meinem Vater nach Masuren, über 30 ehemalige Dorfbewohner im Bus kennen lernte.

Okrongli (Okragly) bedeutet „runder See“. Es ist ein kleiner See knapp im heutigen Weißrußland. Die Geschichte läßt sich zurück bis ins 13. Jhdt. verfolgen. Da wurden die Menschen am See nach dem See benannt.

Die Volksschule
Unser – Fritz (Foto) in Wanne – Eickel begann 1955. Die Zeit zwischen meinem 5. – 10. Lebensjahr ist mir fast komplett in Erinnerung. Eine wilde Hinterhofzeit. Hinterhöfe die fast 100 m breit waren, weil sie ineinander übergingen. Diese Kindheitszeit prägte mich immens. Peter Habicht + Jürgen Okrongli:

“ KINDER VON HEUTE WERDEN IN WATTE GEPACKT. Wenn Du als Kind in den 50er, 60er oder 70er Jahren in den Hinterhöfen des Ruhrgebietes lebtest, ist es zurückblickend kaum zu glauben, dass wir so lange überleben konnten!

Als Kind saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags. Unsere Bettchen waren angemalt in strahlenden Farben voller Blei und Cadmium. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genau wie die Flasche mit Bleichmittel. Türen und Schränke waren eine ständige Bedrohung für unsere Fingerchen. Auf dem Fahrrad, dem Ballonroller und den Eisenrollschuhen trugen wir nie Knie- und Ellbogenschützer oder einen Helm. Das führte irgendwann und unvermeidbar zu blutenden Knien. Weil jeder das hatte, waren andere Dinge wichtig.

Wir tranken Wasser aus Wasserhähnen und Cola und Sinalco aus Flaschen zu 25 Pf die Flasche: daws war auch der Preis von 1 Päckchen Salzstangen von Balzen. Wir bauten Wagen aus Seifenkisten und entdeckten während der ersten Fahrt, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Damit kamen wir nach einigen Unfällen klar (Foto: Kohle vor dem Haus. Sie mußte in den Keller „geschöppt“ werden).

Ballonroller fahren schneller als die Metallkonstruktionen heute – besonders von einer Kohlenhalde. Im Winter zogen ganze Straßenläufe auf die Kohlenhalde. Da, wo die LKWs die Kohle anlieferten und abkippten. Während man eine 200 m Stecke den Berg hinunterschoss – die Besten auf`m Baucher, kamen andere halsbrecherisch in der Fahrbahn den Berg hoch. Wenn man sich dumm anstellte und überfahren wurde, lachten alle. Dann tat man das besser nicht und lernte, wie ein Luchs aufzupassen. Das brachte immer neue kreative Ideen ans Tageslicht.

Wir verließen nach den Schularbeiten das Haus zum Spielen. Dann blieben wir den ganzen Tag weg und brauchten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wußte, wo wir waren – wir hatten noch nicht einmal ein Handy dabei!

Wir haben uns geschnitten, brachen Knochen, brachen Zähne oder hatten fast ein Loch im Kopp.. Niemand hat uns deswegen verklagt. Es waren eben Unfälle. Niemand hatte Schuld – außer wir selbst. Keiner fragte nach „Aufsichtspflicht“. Kannst du dich noch an „Unfälle“ erinnern ?

Wir kämpften und schlugen einander bunt & blau. Damit mußten wir leben, denn Erwachsene konnten sich nicht ständig darum kümmern und wollten es auch nicht.

Wir aßen Kekse, Brot mit dick Butter, tranken viel Cola und wurden trotzdem nicht zu dick. Wir tranken miteinander aus einer Flasche – und niemand starb daran.

Wir hatten nicht Playstation, Nintendo 64, X-Box, Videospiele, 64 Fernsehkanäle, Filme auf Video, Surround Sound, eigene Fernseher, Computer, Handys, Internet-Chat-Rooms. Wir hatten Freunde.

Wir gingen raus und trafen uns auf der Straße. Oder wir marschierten einfach zu den Freunden nach Hause und klingelten. Manchmal brauchten wir gar nicht klingeln und gingen einfach `rein. Ohne Termin – ohne Wissen unserer Eltern. Keiner brachte uns – keiner holte uns. Wie war das nur möglich ?

Wir dachten uns Spiele aus mit Holzstöcken, Knickern oder zum Hüpfen. Außerdem aßen wir Würmer. Und die Prophezeiungen trafen nicht ein: die Würmer lebten nicht für immer in unseren Mägen weiter. Und mit den Stöcken stachen wir nicht besonders viele Augen aus.

Beim Fußball im Hinterhof wurde per Piss-Pott entschieden. Die Besten wählten ihre Mannschaften. Jeden Tag blieben die Besten die Besten und die Schlechtesten die Schlechtesten. Das war so. Man mußte lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen und aufpassen, dass man nicht der Doofe war, über den sich alle lustig machten.

Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch Prüfungen und wiederholten Klassen. Jürgen Okrongli probierte das auch aus. Das führte nicht zu emotionalen Elternabenden oder gar zur Änderung der Leistungsbewertung.

Wir bekamen von unseren Eltern gesagt, dass jeder für sich verantwortlich sei und nicht besser – aber auch nicht schlechter, als der andere sei. Alle Menschen sind gleich viel wert! Das hörte sich fast schon kommunistisch an. Manchmal erzählten die Väter von ihrer Arbeit (Foto: Kohleloren) – aber eher nicht. Wir Kinder sahen nur, dass sie kaputte Hände und Gesichter hatten und taten es ihnen nach. Wir drehten Arme um, traten in Hintern, nahmen in Schwitzkästen, brieten dem anderen mit einem Weidenstock ein`s `drüber, nur so zum Spaß. Die Lehrer taten es ja auch, nur zum Spaß.

Unsere Taten hatten manchmal Konsequenzen. Das war klar, und keiner konnte sich verstecken. Wenn ein Mädchen nach einem Doktorspiel nicht „dicht“ gehalten hatte und es ihren Eltern erzählt hatte, erzählten es die allen Eltern, und es gab überall Standpauken. Aufgeklärt wurden wir nicht, nicht zu Hause und nicht im Sexualkundeunterricht: wir wußten ja schon alles, was man an Anatomie wissen mußte, von der Straße. Und überhaupt: die Großen erzählten den Kleinen alles haargenau, auch wenn die überhaupt keine Ahnung hatten und damit auch gar nichts anfangen konnten.

Wenn einmal die Polizei kam und klar machte, dass das, was geschehen war, nicht noch `mal passieren dürfe, waren die Eltern auch der gleichen Meinung. Als die Polizei weg war, fragten die Eltern vollkommen entsetzt, warum man sich erwischen lassen konnte. Das tut man einfach nicht! Das war dämlich.

Unsere Generation hat eine Fülle von innovativen Problemlösern und Erfindern mit Risikobereitschaft hervorgebracht.

Wir hatten Freiheit, Misserfolg, Erfolg und Verantwortung.

Mit all dem lernten wir umzugehen.

1955 beginnt die Schule
3 Volksschulen! Ganze Klassen wurden verlegt. Ab 1960 ändert sich vieles: die Realschulzeit nimmt ihren Lauf, und: meine Eltern und ich ziehen in den Norden von Wanne-Eickel – auf die „Cranger Kirmes“. Die wilden Abenteuer der Zechensiedlung sind vorbei. Ich sehe jetzt zu 95 % sauber aus. Wenn ich so `rausgeputzt vor einem Verwandtenbesuch dastand, mit unzweifelhaft deutlichem ÄH-Gesicht, sagte meine Mutter immer:“ Du bist jetzt schon groß,“ was soviel hieß wie, so läuft man dann `rum.

Bis zur 5. Klasse waren die Leistungen durchschnittlich. In der 5. Klasse gab es eine Störerclique. Ich war dabei. Die Zensuren gingen in den Keller. Zack ! Sitzen geblieben.

Zum 1. Mal in meinem Leben ein K.O. Uff ! Später zeigte es sich, dass es mein Glück gewesen war. Eine ganz neue Chance mit ganz neuen, jungen Lehrern. Ich hatte super Zensuren, war Klassensprecher und noch besser: unsere Schule gehörte zu den 3 Handballhochburgen der Realschulen in NRW. Mein neuer Sportlehrer Herr Hartmann, machte mich nach 1 Jahr zum Kapitän der Schulmannschaft. Herr Hartmann trat vor die Mannschaft und sagte:“ Jürgen ist nicht der härteste Werfer und nicht der beste Spieler von euch – aber er zeigt immer den meisten Einsatz. Das macht der Kapitän.“ Für mich so etwas wie der Papst bei den Katholiken. Ich war so stolz, dass mich Mädchen nicht die Bohne interessierten. Wir gewannen. Ich ging weiter zum Gymnasium.

Eine kalte und nüchterne Zeit begann. Ich mußte morgens um 6.00 h `raus. Zur Bushaltestelle. Zum Hauptbahnhof nach Herne, in die Straßenbahn und nach Bochum, einen steilen Berg hoch und am Ende alles wieder umgekehrt – 3 Jahre. Das machte mir nix – aber: es war anonym, kalt, .. Schüler kamen sogar aus Oer-Erkenschwick. Eine Gemeinschaft konnte nicht entstehen. Wieder Klassensprecher. Immer noch sehr gut in Mathematik. Sport ? Auf dieser Schule fehlte das warme Blut. Mir auch. Ich fing an – mit 17 Jahren – Anzüge zu tragen und Mädchen zu küssen. Reine Ablenkung. Als diese Schule vorbei war, habe ich 3 Kreuzzeichen gemacht (sagte meine Mutter immer) und ging zur Bundeswehr (um ein wenig Bewegung zu haben). In meinem Kopf war die Idee, danach Mathematik zu studieren. Das sollte aber ganz anders kommen !

Die Bundeswehrzeit 
hatte Multieindrücke und Erfahrungen für mich. Ich sah meinen Stellenwert unter einem Haufen 20-jähriger in einem festeren Regelwerk, als ich es zuvor kannte. Im Nachhinein fällt mir ein, dass ich immer schaute, wo das Regelwerk eine Lücke hatte, die ich nutzen konnte. Es hatte hunderte Lücken. Manchmal ging ich zum Abendessen nicht in die Kantine mit anschließendem Volllaufenlassen, sondern fuhr eine Viertelstunde entfernt nach Münster und dort in ein altehrwürdiges Speiselokal „Westfälischer Frieden 1648“. Dort saß ich dann um 18 h ganz allein an einem Tisch in einer alten Pastorenkanzel und fühlte mich unsagbar anders. Ich genoss das Entkommen. Sehr schnell begriff ich, dass ich es klüger anstellen mußte, als die Vorgesetzten, um mehr Freiheitsgefühle zu bekommen. Das hatte ich in den Hinterhöfen meiner Kindheit und auf den Schulen zur Genüge ausprobieren können und müssen. Ein „Schachzug“ war, um 6 Monate zu verlängern, um aus dem Schlamm des Panzergrenadierkompanie in Aalen heraus und in eine Sprechfunkbatterie bei Münster (mit Sitz im warmen Unimog im Manöver)hinein zu kommen. Ich hatte mehr Freiheiten als Vorgesetzter, mehr Geld, brauchte erst morgens zu erscheinen und hatte Zeit, in Ruhe nachzudenken, was ich nach der BW-Zeit machen würde. Als Dienstgrad wurde ich der Handballmannschaft zugeteilt, da ich ja selber Handballer war. In der Mannschaft waren alle von Oberliga aufwärts bist zu Karl-Heinz Schulz, Grün-Weiß Dankersen, Bundesliga und B-Nationalspieler. Wir waren im wahrsten Sinne des Wortes ruhmreich, gewannen alles bis in die Chorebene. Unser Batterie-Chef und besonders der Spieß waren Handballbesessene. Sie hatten garantiert beim Kreiswehrersatzamt etwas nachgeholfen, wer zu ihnen kommt. Die Batterie (120 Mann) hatten sehr oft Sonderurlaub, weil wir gewannen. Wir wurden von den Kumpels auf Händen aus der Halle 100 m weit zum Batteriegebäude getragen. Dort ließen sie uns aber spontan fallen und stürmten nach Hause. Ich bekam eine Einladung zum Talenttraining nach Grün-Weiß Dankersen. Das fand nie statt. Es sollte anders kommen.

“ 2 Tage vor Ende der BW-Zeit heiratete ich meine große Jugendliebe Gerburg Schreider, nur, weil ich mich über meine andere große Jugendliebe Hedy Rudolph so geärgert hatte, dass sie außer mir noch 2 andere Freunde gleichzeitig küßte und keine Lust hatte, auf sie zu verzichten. Sie sah natürlich auch herzzerreißend gut aus und war mit 17 Jahren so voller Sex, dass es mir schwindelig geworden war und ich fand es gut. Das hatte sie jetzt davon ! Ich ging nicht mehr zurück ins Elternhaus nach Wanne-Eickel, sondern in eine eigene Ehewohnung mit Balkon nach Dortmund-Mengede (hoch im Norden Dortmunds/in 5 Autominuten im Grünen). Gleichzeitig bedeutete das aber auch: keine Handballkarriere! Entweder die Liebe oder … Das hing mir 30 Jahre lang nach. Tief innen in mir – jenseits der Ehegefühle – war ich Handballer. Aber 3 x Training die Woche + Spiele .. keine Startbedingung für eine junge Ehe oder eine junge Familie + Berufsneubeginn für mich. Wieder ein Schnitt. Ein harter Entschluss. Ich traf ihn, weil es das Klügste war. Es zerriß ewig lange mein Herz.

Als 22-jähriger wollte ich nicht, dass jemand meine aufgewühlte Seele sah. „Dafür war ich allein zuständig“ , so dachte ich damals, als mein Erwachsenenleben begann.

In der Bundeswehrzeit war mir klar geworden, dass ich einen Robin-Hood-Beruf wählen würde. Ein Freund sagte:“Werde Henker! Als Henker wärst Du gut!“ Nein! Ein praktisch ausgerichtetes Studium und studiumfinanzierendes Sozialjobben in der Dortmund-Nord-Jugendszene. Meine Wünsche, meine Fähigkeiten, ein verwirklichbares Ziel als junger Ehemann. Ich war sehr gespannt und neugierig auf die NEUE WELT.

Der Start begann mit einem halbjährigen Praktikum im Jugendbewahrheim Dortmund-Nord, wo ich um ein weiteres halbes Jahr als kommissarischer Leiter verlängerte. Dieses Heim war Fürsorgeerziehung oder freiwillige Erziehungshilfe für Jugendliche und junge Erwachsene, die die Gesellschaft abgeschoben hatte. Der letzte Müll. Es war die Dunkelkammer Dortmunds – damals. Auch am Tage war es dunkel. Ein Haus, in dem es eine Gefängniszelle gab, in die Ausbrecherjugendliche gesperrt wurden, die nachts in Dortmund aufgegriffen wurden und aus einem Heim, irgendwo in Deutschland oder im Ausland ausgerissen waren.

Ich kam vom 1. Tag meines Praktikums im Anzug. Inzwischen hatte ich 5 Jahre Erfahrung, welcher „Zwirn“ klassisch und edel war. Keiner war da im Anzug. Zuerst.

Nach 4 Monaten zogen sich die Bewohner nach ihren Tagesjobs „piko bello“ an. Wie ich. Der Heimleiter sah das als einen Affront gegen sich – aber: was sollte er schon sagen. Er sah aus, wie aus dem Müll gezogen, ungepflegt, immer dreckige Fingernägel. Verwahrlost.

Er war ein Kauz,dieser Herr Mödder, schnell eingeschnappt, zur Überwindung kleiner pädagogischer Distanzen absolut ungeeignet .. aber: er konnte außergewöhnlichen Presserummel veranstalten, konnte große Sachen machen. Ich stand mit offenem Mund da, underte mich jedes Mal und war sein Ideenausführungssklave. ABER: ich lernte und lernte und lernte viel.

Meine spätere Unerschrockenheit, dreiste Öffentlichkeitsarbeit zu machen, ist seiner Vorlage zu verdanken. Noch 2007 hörte ich ihn im Radio über ein Dortmunder Projekt. Er hörte sich immer noch „dreckig“ an (seine Mutter hatte vergessen ihm zu sagen, dass er schon groß ist) und, er war wieder im Radio. Das läßt mich schmunzeln.

Nach dem Praktikum wurde ich zum Amtsleiter des Jugendamts gebeten und gefragt, ob ich es mir zutraue, das Jugendbewahrheim jetzt im Angestelltenverhältnis mit ordentlicher Bezahlung (nicht Praktikantenausbeutung)kommissarisch zu leiten. Der normale Leiter hatte so viele Überstunden, dass er 3 Monate Urlaub bekam. Ich sagte JA – der Heimleiter fuhr nach Rußland und erfüllte sich seinen Traum.

Von da an brannte beruflich der Himmel. Türen sprangen auf, bevor ich sie berührte. Die Arbeit war mit sehr viel Hochgefühl getragen. Es war eine große Verantwortung für einen ungelernten 22-Jährigen – aber: er hatte immer hilfreiche Stützen und seinen unverfälschten Blick, in den Hinterhöfen des Ruhrgebiets erworben – im täglichen Trainingslager – schon 19 Jahre lang.

Ich war ein gefragter Newcomer der Dortmunder Kinder- und Jugendszene in den 70ern. Bevor ich ging, starteten wir noch ein letztes und großes Projekt: Bolzplatzbau – 45 m x 25 m – für die Heimjugendlichen. Firmen, Ämter und Presse wurden unermüdlich in Bewegung gehalten. Das war absolut mein Ding und auch das des Heimleiters. Ich glaube, wir waren unschlagbar! Kurz bevor ich ging, war der Platz fertig. Für ein paar Dutzend Erbsensuppenteller im Gegenwert zu 120 000 DM Kostenvoranschlag.

Mit dieser Referenz standen mir überall die Türen offen. Ich wählte aber nicht die Schicki-Micki-Szene des Dortmunder Südens, sondern etwas höher – in den Dortmunder Norden: Do-Derne, Zechengebiet, Bezirksjugendheim der Stadt. Jugendliche verteidigen ihre Reviere. Die Heimleiterin Frau Margit Rankert wir freundlich warm und durchsetzungsstark. Gut, um hier lange zu arbeiten. Die meisten pädagogischen Mitarbeiter blieben nicht länger als 1 Jahr. Zu hart. Zu pädagogisch fragwürdig. Eine Arbeit, die Illusionen fraß. Margit, Elisabeth, Rüdiger, Gerd und ich sollten mehr als 7 Jahre dort arbeiten. Die restlichen 100 Probekandidaten flohen dahin und waren nie mehr gesehen. Der oft gesehene Abteilungsleiter Manfred kam immer im hellen Anzug, auch im Winter. Die Jugendlichen akzeptierten ihn sehr, waren stolz. Er hat sehr gute Arbeit geleistet.

Erst einmal stand jetzt der Beginn meines Studiums der Sozialpädagogik in Bochum an der Ev. Fachhochschule, Immanue-Kant-Str., an. Ein langersehnter Schritt.

Ein neues Kontaktleben entstand. Ich trug Anzüge fast nur noch zu Familienfesten. Unter gleichaltrigen Studenten dieser Fachrichtung hätte ich ausgesehen wie einer vom anderen Stern – das war mir sofort klar: hier im Anzug – ist man ein bemitleidenswerter Irrer! Heute bedauere ich, meinen Stresemann nicht als Kultobjekt eingemottet zu haben. „Echt jammer,“ wie der Holländer sagt.

Die Fachhochschulzeit
ist großfamilienmäßig. Das kannte ich sehr gut. Es ist gemütlich, verrückt, hautnah und immer persönlich. Der Lernstoff war pippieinfach! ICH ENTFALTE MICH enorm, weil mich nichts nervte oder überforderte. Während ich die praktische Seite des Berufes im Bezirksjugendheim des Dortmunder Nordens erfuhr, holte ich mir den theoretischen Teil im Studium. Am Nachmittag bis Abend war ich Ehemann und am Wochenende Sohn, Freund, Schwiegersohn, Schwager.. auf dem Campingplatz Stimberg, nördlich von Recklinghausen, Datteln, da, wo meine Eltern und Schwiegereltern schon seit meinem 15. Lebensjahr waren und wir uns alle kennengelernt hatten – aus unterschiedlichen Richtungen des Ruhrgebiets – Sehnsucht nach Wald (die Hardt) und der Freiheit des „Zigeunerlebens“ (wie es meine Mutter nannte). Ein freies und ungewungenes „Trainingshosen-für-alle-Leben“.

Meine Frau arbeitete in der Konsum-Zentrale am Computer, ich verdiente im Jugendzentrum, gab Kurse, bekam von Eltern und Oma oder Erbtante immer eine sehr großzügige Unterstützung und hatte einen Schwager, der bei Deutsche Renault arbeitete und mir immer R4s (Unfallwagen für 500 DM)zuschusterte. Damals verdienten wir über 5000 DM im Monat – was für die Zeit großer Luxus war. Wir fuhren 3 R4s und gaben Massenfeten. Es wurde nichts ausgelassen. Wenn es auf Feten dunkel wurde, konnte man nicht erkennen, wen man gerade küßte. Man fragte auh nicht. Griff tastend ins Dunkel. Das waren sehr beliebte Parties. Eine wunderschöne Zeit. Alle kamen gerne. Keiner trennte sich. Alle hatten ja viel Abwechslung und gingen dann wieder nach Hause. Noch heute liege ich tränenlachend im Sessel, wenn ich meiner Frau Elke das erzähle. Sie hat das auch in Berlin erlebt. Das war so – damals. Da konnte man nicht anders..

Im Studium gab es sehr viel Raum für Kontakte untereinander. Es war die Zeit nach Rudi Dutschke und der 68er „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO):“Nieder mit dem amerikanischen Imperialismus! Es lebe die Nordvietnamesische Befreiungsfront“. Diese und ähnliche Sprüche in Verbindung mit einem „Eisernen Kreuz 1″(EK1) aus dem 1. Weltkrieg von meinem Opa, hatten mich auf dem Gymnasium fast meinen Kopf gekostet. Und dann das Studium der Sozialarbeit / Sozialpädagogik. Schon bald hatte ich schulterlange Locken und Hippiepullover (mit solch` einem Aussehen hätte man mich in den 50ern auf den Hinterhöfen jeden Tag mit dem Pullover in die Köttelbecke (Emscher) gestellt. Ich gründete mit Kollegen eine neue Hochschulpartei, war der Parteivorsitzende, wurde Senator in Düsseldorf und legte nach 2 Wochen das Amt nieder. Ich wollte niemals Senator sein! Zu abgehoben.Senator Robbin Hood. Nee !

Aber eine andere noch heute tiefe Leidenschaft wurde gestartet: ich wurde im 3. Semester Tutor (Studentenanleiter) für Medienpädagogik. Mein Lieblingsprof Kurt Oster setzte das durch, weil man es erst ab dem 5. Semester werden konnte – wegen der zu haltenden Seminare vor Fünftsemestern. Ich lernte Fotografieren – SCHWARZ/WEISS – mit Entwicklung im hochschuleigenen Labor. Und: der Laborschlüssel war in meiner Obhut. Ich durfte, wann und soviel entwickeln, wie ich wollte. Mein großer Gönner Prof. Kurt Oster starb zu früh. Ich konnte ihm nicht mehr nach Jahren für seine Anschübe danken. Ein Mann der anderen Klasse! Ich staunte, weil er neben seiner Ehewohnung noch einen alten Milchladen in Recklinghausen gemietet hatte und ihn, nebst dem hintern Garten in einen Urwald verwandelt hatte. Alles tropisch – mitten in Recklinghausen. Er rauchte Filas, trank Espresso und lebte dramatisch auf Lebensgenuß in kürzester Zeit. Und ich saß mit ihm oft zusammen, besprach Seminare, meine Fotos..

Augen interessierten mich beim Fotografieren. Augen als Türen zur Seele. Das 1. Auge gehörte Gerburg, meiner Ehefrau. Ich stellte die Fotos auf den Fluren der Fachhochschule aus.

Deutlich sieht man, dass Gerburg Wimperntusche benutzte. Tat man so, damals. Schon lange bin ich Frauen zugewandt, die natürlich bleiben. Dann erkennt man sie wenigstens, wenn sie beim Schwimmen nach dem Auftauchen überraschend vor einem sind.

Aus Studentenfreundschaften und Familienfesten bildete sich ein ineinander verwobenes Knäuel von Beziehungsgeflechten zu denen dann auch noch meine Jugendliebe Hedy mit ihrem Mann stieß. Beide hatten in ihrer Heimatstadt auch eine beträchtliche Clique aufgebaut, die besondere Parties zu feiern wußten. Hedy war als Schnellmerkerin sofort im Bilde und spielte mir immer wieder Zarah Leander vor: „Nur nicht, aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den Einen. Es gibt so viele auf dieser Welt – ich liebe jeden, der mir gefällt.“ Ich bewunderte schon immer ihr offenes Herz und ihre Weitsicht, kam aber, jetzt studentisch geschult, von der anderen Ecke daher:

„Ein Kuss ist so gesund wie 100 m Joggen. 29 Muskeln werden beim Küssen beansprucht, besonders aber der „musculus orbicularis oris“, der den Mund in O-Stellung hält. Außerdem setzt die Nebenniere beim Küssen Adrenalin frei, die Bauchspeicheldrüse produziert Insulin und das Immunsystem schickt Abwehrzellen durchs Blut, die alte Schadstoffe eliminieren,“ sagte ich stolz.

„Meine ich doch auch,“ lächelte sie und riß mich um. Es war nicht möglich, standhaft zu bleiben. Ich war zu schwach.

Mitten hinein in diese turbulente Zeit – 1974 – wird Dennis geboren. Wir sind stolze Eltern, nehmen ihn auf jede Fete mit – er schläft im Schlagzimmer mit Ohrstöpseln. Morgens kriecht er über das Meer von Halbschlafenden im Wohnzimmer. Schon von jungen Jahren ist er es gewohnt, mit vielen Menschen Umgang zu haben. Als er ein halbes Jahr alt ist, nehme ich ihn öfter mit in die Fachhochschule. Das fand er gut. Bildung kann ja nicht schaden! Vielleicht läßt er sich die Semester später `mal anerkennen?

In einem Stück meines Herzens war ich der explodierende Student, um den herum das Leben pulsierte, wie eine verzaubernde Achterbahnfahrt, bei der das Ende nicht abzusehen war. Ein anderes Stück Herz war für meine Familie – groß und klein. Da war ich s e h r solide, trug aber lange Haare und einen Bart, was sich damals als Student so gehörte. Ein weiteres Stück Herz galt den ausschweifenden Festen mit Freunden. Irgendwie kam mir damals überhaupt nicht der Gedanke, dass das nicht alles so weitergehen konnte.

Im Studium war ich 3 Monate Praktikant an der Fachschule für Sozialpädagogik, Recklinghausen (Erzieherausbildung). Die hatten noch nie einen Praktikanten. Ich sollte mir meine Aufgabengebiete selber zusammenstellen. Toll! Meine Kollegen waren Psychologen, Pädagogen, Künstler, Leiter des Jugendamtes.. und ich. Sie behandelten mich zuerst ein wenig praktikantenhaft. Aber: ich unterhielt mich mit jedem lange und oft, besuchte ihre Unterrichte und Praxisstellen in Kindergärten. Sagte ihnen ganz klar, was ich gut und schlecht fand. Die Stimmung drehte sich. Ich war im Team und durfte eigenen Unterricht halten (kannte ich schon vom Studium und meinem Mentor Prof. Kurt Oster). Das hier war einfacher. Das waren 16-17 jährige Mädchen. In die Praktikumszeit hinein wurde mein Sohn geboren. Ich war gerade im Lehrerzimmer und schrie und jubelte wie von Sinnen. Die Direktorin gab mir Vaterurlaub.

Zur Examensarbeit war unser Sohn auch dabei. Ich machte eine 2-semestrige Videobegleitung eines Forschungsprojekts „Psychomotorische Förderung im 1. Lebensjahr.“ Es war das Programm von KOCH/Prag, das meine Diplomanten“mutter“ von Prag nach Bochum geholt hatte und wir gemeinsam in Kursprogramme „umschrieben“ und praktisch ausführten. Es ist später unter dem Namen PEKIP (Prager-Eltern-Kind-Programm) bekannt geworden. Dennis, unser Sohn, war der erste PEKIPER, der mehrere Kurse mitmachte, weil ich der Vater war und filmte. Dennis lernte so sehr schnell auf allen Vieren zu laufen und mit anderen zu kommunizieren. In meiner Examensarbeit sind viele Fotos von ihm aus dieser Kurszeit.

Es ist 1975. Ich bin 26 Jahre. Mein Sozialpädagogikstudium ist zu Ende. Zweitbester des Jahrgangs. Alle Wege stehen mir offen.

Die absolut schönsten 3 Jahre meines Lebens (bis dahin) liegen hinter mir. Ein begeisterter Student, geliebter Sohn/Enkel, stolzer Vater, Ehemann, geschätzter Schwiegersohn geht ins Anerkennungsjahr nach Recklinghausen-Hochlarmark, Berliner Viertel (Reihenhäusersiedlung für kinderreiche Familien von 5 – 11 Kindern).

Durch das berauschende Studium war ich von gemessenen 1.83 m auf 3 m gewachsen, versuchte aber noch der Alte zu bleiben. Als Spruch dazu half mir der Satz meiner Oma: „Du kannst alles werden – nur nicht bekloppt oder eingebildet!“ Ich verspreche es DIR für mein Leben, meine Liebe!

Wieder hilft mir Prof. Kurt Oster, mein Mentor, mein Fotomeister, mein väterlicher Rücken, er, der in den 60ern Recklinghausen zur Hochburg des Beats in Deutschland machte. Er, der alle Bands mit Rang und Namen in die Vestlandhalle holte. Er war väterlich und Rock`n Roll. Er ließ mich immer an der langen Leine. In seiner Sturm- und Drangzeit war er Freund des späteren Recklinghauser Jugendamtsleiters Lucas, den ich ja schon auf der Fachschule habe kennenlernen können. Beide zerstritten sich während eines Coca-Cola-Projekts dermaßen, dass ihre Freundschaft zum Erliegen gekommen war. „Gehen sie zum Lucas. Sagen sie nicht sofort, dass sie von mir kommen – erst, wenn er sie sehr gut kennt. Da hat gerade die Leiterin eines Stadtmodellprojekts, das hochdekorierte Aushängeschild, ihre Arbeit in den Sand gesetzt. Die Stelle ist frei. Sie ist ein Feuerstuhl. Verlangt politisches Kalkül auf Stadtteil- und Stadtebene, pädagogische Innovationen und Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Verwaltung und Akzeptanz der Bewohner. Sie sind ja ganz in der Nähe aufgewachsen. Genau auf sie zugeschnitten. Sie sind mein Mann. Los !“ Geiler Befehl ! OK, Sir! (dachte ich).

Der SPIELPLATZ
Schon sehr früh werde ich auf einer großen Versammlung von 100 Menschen (Bewohner, Verwaltung, Politiker, Presse) als der neue Leiter des Projekts vorgestellt. Ich wunderte mich etwas über das Aufgebot, sollte später aber die genauen Gründe erfahren. Wieder waren Frau und Sohn dabei. Wieder war das richtig. Und: reden war ich gewohnt.

3 Monate Büroarbeit: jetzt erfuhr ich, das dieses Spielplatzmodell in Größe und Art nur in Dänemark und der Schweiz zu finden war. Deutschland war noch nicht so weit. HUii ! Ich saß außerhalb des Jugendamtes mit 1 Kollegin und einem Kollegen auf dem Büro, lernte so alle Mitarbeiter des Jugendamtes sehr genau kennen und holte mir Infos aus Dänemark und der Schweiz. Dann ging es los!

Gut, dass ich als Student Tutor für Medienpädagogik gewesen war und natürlich immer noch meinen Prof – Berater und Szenenkenner heimlich im Ärmel hatte. So machte ich einen Einstand mit Politikern, Presse und Verwaltung, der es in sich hatte. Wir gingen eine Ehrenrunde um den Spielplatz. In der 1. Reihe der Bürgermeister, der Sozialdezernent, der Jugendamtsleiter, der Architekt und ich. Da fragte mich der Bürgermeister: „Herr Okrongli, was ist ihr Eindruck von ihrem neuen Arbeitsplatz.“ Alle wußten nicht, dass ich wuchtige Auftackte liebte:“ Ja! Das ist hier halb so groß wie der Städt. Friedhof aber doppelt so tot.“ Hatte ich `mal ähnlich in einer PARDON gelesen. Fand`ich gut.

Der Jugendamtsleiter Lucas hakte sich bei mir ein und übernahm das Gespräch: „Herr Okrongli ist ein sehr… wir werden aufmerksam teilhaben, was demnächst hier…“

Er glättete. Und der Architekt fand wieder in den Tritt während Bürgermeister und Dezernent noch immer glasig und unverwandt in der Ferne schweiften. Herr Lucas zog mich etwas langsamer – aus der 1. Reihe. „Sehr mutig, Junge! Jetzt mußt du aber auch zeigen, dass das keine leeren Worte waren.“ Hinter uns schmunzelte die Presse lüstern, sich nach rosigen Zeiten sehnend. Die sollten sie bekommen !

Mein Büro ist jetzt direkt am Spielplatz, im Arbeitszimmer des Vereinsvorsitzenden „Berliner Viertel“ (für 3 Monate / Übergangslösung). Ich fühle mich sauwohl.

Zuerst organisiere ich ein Herbstfest mit einem großen Zelt, einer Tombola mit richtig dicken Preisen der Geschäftsleute (eine Kommunalpolitikerin, Mitte 50, nimmt mich in Schlepptau). Wir räumen richtig ab.

Für die Dortmund-Nord-Szene war ich bereits der Organisator von Kinderfesten. Ich schleppte die Dortmunder Jungs (viele waren schon über 18) als meine Assistenten nach Recklinghausen, und ein Fest entstand, das mich sofort in die Herzen der Eltern und Kinder brannte, die Presse hatte ihre rosa Berichte, mein Amtsleiter strahlte zufrieden. Ich hatte aber einen guten Lehrherren. Der sagte mir:“Schiebe sofort nach! Lass sie sich erst gar nicht erholen! Von dem einem Jahr machst du die erste Hälfte so ein Specktakel, dass sie nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht..“

„Klare Ansage,“ dachte ich. Spektakel machen war mein Lieblingsding. Ich besuchte jede Familie zu Hause. Bekam, nachdem ich mich als Käse-Sahne-Liebhaber geoutet hatte, überall ein Stück Käse- Sahne-Torte. Heute. 30 Jahre später – esse ich keine KS-Torte mehr. Damit bin ich durch.

Ich war 2x die Woche mit dem Spielplatz in der Zeitung. Wir machten Olympiaden, bei denen der Bürgermeister, der Sozialdezernent und Verwaltungsleute auf 50 m ernsthaft um die Wette liefen. Die Kinder grölten.

Eine wuchtige Zeit voller Zuneigung und Liebe. Damals entdeckte ich, dass ich Kinder verzaubern konnte. Noch heute kann ich es und mache es. Ich kann Kindergefühle sprechen – als Wegweiser. Die Eltern sind heute noch stark beeindruckt, wenn ich mit Kindern etwas mache.

Ich merkte nicht, dass meine Frau das Tempo nicht gehen wollte – so auch nicht leben konnte – es war nicht ihre Art. Alles kam für mich sehr schnell. Sie war – wie ich -auch sehr schnell und konsequent, nahm unseren Sohn unter den Arm und war weg. Für immer. Jemand aus unserer alten Clique war ihr „neuer“ Mann.

Mein Blut schien Tage still zu stehen. Es war aber nicht wegen ihr – ein wenig. Es war wegen meines Sohnes. Er war noch so klein. 2 Jahre alt. Ich wollte mit ihm all`den wunderschönen Nonsense machen, der zu nichts gut ist außer wahnsinnig lachen – den ich bis heute sooo beherrsche und liebe. Ich habe damals geschrieen vor Schmerz, wenn niemand in der Nähe war. Es hat über 10 Jahre gedauert, bis diese Wunde ruhiger wurde. Noch heute bin ich traurig, wenn ich mit meinem 34-jährigen Sohn spreche – aber auch glücklich und stolz auf ihn, wie er sich ins Leben gearbeitet und gelebt hat.

Den Eltern auf dem Spielplatz und meinen Jugendamtskollegen schüttete ich sofort reinen Wein ein. Was dann passierte, schießt mir heute noch Tränen in die Augen. Man hat mich überall „in Schutz“ genommen, umsorgt, angelächelt. Das kannte ich in dieser Fülle gar nicht. Ich ließ mich fallen – denn ich war in guten Händen.

Unsere Wohnung war halbleer, was die Möbel betraf. Ganz leer, was das Leben betraf, was hier vorher gewesen war.

Die Vermieter baten mich, eine andere Wohnung zu suchen, weil die jetzige nur für Familien geplant war – in einer Umgebung von ehrenwerten Familien.

Zeitgleich war ich im Recklinghauser Spielpark ein König. Das neue Holzspielhaus war fertig. Ich saß vormittags manchmal auf dem Dach und schaute eine halbe Stunde in die Luft und in die Runde. Die Eltern wußten, dass das zu meiner kreativen Phase gehörte. Die Kinder waren noch in der Schule.

Wenn sie dann kamen, begannen die Abenteuer: Baumbuden, Aufbau eines Abenteuerspielplatzes, wo jeder aus altem, angelieferten Holz des Städt. Fuhrparks seine Bude baute (die Väter stöhnten, weil sie keine Nägel mehr im Keller hatten, waren aber auf ihre Sprößlinge mächtig stolz). Eishockey im Winter, Fußball auf dem Bolzplatz und Feste. Wunderschöne Zeit. Wenn ich 17.30 Uhr nach Hause in >meinen< Brennpunkt kam, warteten Freunde schon in der Tiefgarage: wir schraubten an unseren Autos. Duschen. Auf die Rolle. Zuerst gingen nur wir Männer, dann protestierten die Mädchenfrauen der anderen. Von da an brachte man mir immer eine neue Frau als Abendbegleiterin mit. Ich fand meine Freunde sehr fürsorglich. Meine Mutter war gerührt, wie meine Freunde für mich sorgten. Ich brauchte keinen Handschlag zu machen.

Nach einem halben Jahr war ich es leid. Das war nicht das Leben, wie ich es mir vorgestellt hatte. In dem Spielpark war ich inzwischen zum Leiter avanciert und hatte 4 Mitarbeiter – allesamt Praktikanten. Das ging jetzt richtig professionell und mit viel Herz. Privat war ich unzufrieden. Die Frauen, mit denen ich mich verabredete, waren zwar alle richtig gutaussehend, innen aber hohl. Ich lag auf dem Spielplatzhaus und grübelte und grübelt..

DA WAR ES ! Ich erinnerte mich an eine Praktikantin im Dortmunder Jugendheim – vor einem Jahr. Die hatte tolle Augen. Elke..hieß sie.. wie weiter .. wußte ich nicht mehr. Aber, noch heute Abend wollte ich die Heimleiterin darauf ansprechen. Ich tat es.

VON DIESEM MOMENT AN BEGANN EIN GANZ ANDERES LEBEN FÜR MICH.

Die Heimleiterin Frau Rankert war mein Glücksbringer. Sie hatte die Adresse und Namen von Elke noch in der Kartei. In dieser Nacht schlief ich schlecht, dachte, hoffentlich hat sie gerade keinen festen Freund.

Am nächsten Morgen fuhr ich schon um halb 7 zum Spielpark. Ich hatte keine Ruhe.

Um halb 8 wählte ich Elke`s Nummer. Ahhhhhhh. Was hatte ich schon alles erlebt und war doch bekloppt durcheinander wie ein Pinf.

Sie meldete sich. Heiliger ! Ich sagte ohne Umschweife, dass ich mich sehr gern, sehr bald mit ihr treffen wollte – zwecks verlieben (nee, das sagte ich natürlich nicht). Elke sagte:“ Heute Abend ?“ Ich glaubte es nicht: „Ja.“ „Kannst du um 20 Uhr?“ „Ja.“ „Weißt du, wo das ist ?“ „Das finde ich!“

Ich kaufte Blumen und eine Flasche guten Sekt (Deinhardt)(als Anspielung). Mit den Jungs trank ich zu Hause immer roten Krimsekt bis zum Abwinken, und dazu machten wir Erbsen mit Pfeffer in der Pfanne heiß. Wir wollten einfach anders leben – nicht zu bürgerlich. Jedoch: so heftig wollte ich nicht auftreten.

Elke wohnte im Dortmunder Süden. Da kannte ich mich nicht aus. Da wohnen die Reichen. Prompt verfuhr ich mich. Und das mir, der glaubte, sich in Dortmund nicht verfahren zu können. Ich kannte Dortmund wie die Westentasche. Vertan. Ich fuhr durch einen Wald – auf Fußgängerwegen mit dem Auto – an einer Rehkrippe vorbei – immer weiter. Früher hatte ich nie Rehkrippen an Straßen gesehen ?? Die Uhr tickte. Es war schon 19.45 h. Da kam ein älteres Ehepaar mir entgegen – im Fußgängerwald. Zuerst waren sie etwas zurückhaltend.

Dann sahen sie die Blumen und den Sekt und meine Aufregung. Die Zeit tickte.

„Gleich kommt die Straße, dann rechts, 100 m, links..fertig“ Ich war also gar nicht so verkehrt – nur von der falschen Seite gekommen.

Elke lebte auf einem Bauernhof. Fand ich gut. Nur: ich machte den 2. Fehler: falsche Tür. Der Bauer öffnete: „Ah, zu Fräulein Wiemer. Da ist ja schon lange kein Herrenbesuch mehr gewesen.“ Woher er immer das auch wußte: ich fand es schon `mal gut.

Jetzt klingelte ich an der richtigen Tür – drückte sie auf und landete erst einmal in einem schmalen Flur mit steiler Treppe. Oben blieb der Flur schmal. Viele Zimmertüren. Ich stutzte. Da wußte ich ja noch nicht, dass der kluge Bauer bauernschlau seinen Hof innen parzelliert hatte und an ganz viele Studentinnen Zimmer vermietet hatte.

Ich hatte nur eines im Kopf: den ersten Augenblick.

Elke hatte einen Pagenhaarschnitt – wirkte sehr weich und sehr fraulich. Ich war sofort über beide Ohren verliebt. Ihr Stimme war – wie heute noch – sanft. Aus dem einzigen Zimmer drang Leonard Cohen (den ich in meiner ROCK-Welt noch nie gehört hatte). Überall waren Teelichter und Kerzen – bestimmt 30. Seltsame Äste hingen an der Decke und gaben ein Raumbild wie im Geäst eines Baumes – ein Baumhaus.

Mein Verstand knallte weg. Mein Gefühl schrie JAAAAA…. KLAR ! Der Raum war so klein, dass kein Sessel hineinpaßte, weil ja auch noch die Küche `drin Platz haben mußte. Eine Tür ging in einen 2m x 1m – Raum mit Toilette und Dusche.

Wir waren sofort einander ganz nah – im Gefühl. Ich saß anständig neben ihr auf der Schlafcouch und war einfach nur VON SINNEN. Es war der 19. Februar 1976. Als ich um 24 Uhr ging, küßte ich Elke „normal“ auf den Mund – mehr nicht. Zu Hause – in der Brennpunktwohnung – lag ich noch lange im Wohnzimmer auf der Campingliege und starrte in mich hinein. Wußte ich doch, wie es ist, wenn etwas Großes auf mich zukommt. Mein ganzer Körper – mein ganzes Ich – war am Tanzen. Ein Tanz, wie wenn man überglücklich ist – nur im Kopf.

Der nächste Tag war Samstag. Wir beide hatten ein ganzes Wochenende für uns. Am Samstag führte mich Elke in den 100 m entfernten Romberg Park. Zum ersten Mal wirkte Natur tief in mich hinein. Sie verstand es zauberhaft, mir die Natur nahe zu bringen. Mein Verliebtsein öffnete ganz andere Schleusen in mir. Ich saugte es auf wie ein trockener Schwamm. Diesen Abend fuhr ich nicht in den Brennpunkt. Das wurde immer seltener – obwohl ich die Wohnung auch 1 Jahr behielt. Ich wußte nicht, wie der Bauer das gefunden hätte, wenn ich meinen 1. Wohnsitz dort aufgeschlagen hätte. Er fluchte ja schon, als ich ihn zum 3. Mal fragte (im Winter), ob er meinen Gammel-R4 anschleppen würde. „Ich sag` ja nichts, wenn du schon immer hier bist – aber diese Schrottkarre schleppe ich nicht länger ab!“ Es wurde Zeit, auch bei den Autos `was zu ändern. Ich rief den Familienrat ein: Oma, Vater, Mutter, Tante Jutta. Sponsering für ein neues Auto. Jede(r) tat etwas dabei.

Und da stand er dann: ein heißer, breitfelgiger Opel Ascona – metallic-grün. Wauuu ! Damit konnte ich mich bei Elkes Eltern sehen lassen.

Ich belebte wieder die Leidenschaft zur Schwarz-Weiss-Fotografie. Dieses Mal gab es in einem Stadt-Recklinghausen-Gebäude ein verlassenes Fotolabor – und wieder Kurt Oster, der da auch schon gewirkt hatte. Wahnsinnig alte Leitz-Vergrößerer, riesige Schalen für Poster. Eine Schatzgrube. Vergessen. Nicht in Gebrauch.

Ich fragte meinen Amtsleiter, ob ich dort im Namen der Stadt Fotokurse machen könnte. Ein uneingeschränktes JA kam.

Und wieder fotografierte ich, was die Linse hielt. War mit den Teilnehmern auch um Mitternacht auf Exkursion. Wir tauschten die Kameras aus. Ich kaufte neue Gehäuse dazu. Fotografierte Elke in allen Lagen – einmal durchs Schlüsselloch, während sie auf dem Klo saß – ich rief: „Bitte lächeln..“ Sie warf die Toilettenrolle Richtung Schlüsselloch.. die war dann auch auf dem Foto.

Beim Jugendamt fanden alle dieses Foto ausstellungsreif. Elke wollte es nicht ?? Ich fand es witzig.

1 Jahr totales Verliebtsein auf einem Frauenbauernhof als einziger Mann neben dem Bauern, das hatte was! Elke war vor etwas mehr als einem Jahr aus Berlin zurück, wo sie als Zahnarzthelferin gearbeitet hatte: knapp 4 Jahre. Dann wollte sie diesen Beruf nicht mehr und nicht mehr Berlin, ging nach Dortmund an die Anna-Zielken-Schule, um Erzieherin zu werden. Im Rahmen der Ausbildung machte sie dann das Praktikum in Dortmund-Derne, wo wir uns das 1. Mal sahen. Da ich noch in der Ehe lebte, wollte ich sie nicht fragen, ob.. Aber dann eben, am Ende der Ehe.

Die Spielplatzzeit neigte sich dem Ende zu. Mein Amtsleiter bat mich zu sich und machte mir ein Angebot, das fast wie eine Krone war: er wollte den Bereich Kinderarbeit in Recklinghausen neu formieren, und ich sollte der Abteilungsleiter der Kinderarbeit werden. Ein Traumjob für einen 27-jährigen Berufsanfänger, wollte er denn die Sicherheit einer Stadtanstellung mit der Freiheit dieses Aufgabengebietes verbinden. Es tat mir sehr weh – sehr – ihn zu enttäuschen. Ich wußte auch, dass er mich klammheimlich als Schwiegersohn auf der Rechnung hatte. Uffff!

Ich erklärte ihm, dass ich ganz von vorn beginnen wollte, als Student der Psychologie an der Ruhruni Bochum, dass ich schwerstverliebt sei und aus der Mitte des Ruhrgebiets an den Südrand ziehen würde, in die Geburtsstadt von Elke, da wo ihre Familie zu Hause war/ist. Er schaute sehr traurig aus, legte die Hand auf eine meiner Schultern und sagte:“ Junge! So einen wie dich hätte ich gebraucht..aber..gehe Deinen Weg.“ Dann erklärte ich ihm, dass ich der „Schützling“ von Kurt Oster gewesen wäre und der mich hierhin buchsiert hatte. Er lächelte ganz leise und fragte (auch leise): „Wie geht es ihm?“ „Er ist Prof. an der FHS Bochum und, was ich dazu meine, immer noch ihr Freund in Gedanken.“ „Ich weiß,“ sagte er,“ manchmal springen so alte Hornochsen nicht über ihren Schatten.“ Ich lächelte leise. Er klopfte mir auf die Schulter, wie, als er sagen wollte:“Geh jetzt! Mache es mir nicht noch schwerer..“ Ich spürte es und ging. Heute ist Kurt Oster schon lange tot und Herrn Lucas habe ich nie wieder gesehen. Es waren großartige Menschen, denen ich da begegnet bin. Sie waren mir wie Väter und Vorbilder. An sie denke ich heute noch sehr oft. Ich setze mich dann ganz allein im Sommer in meinen heißgeliebten roten Donnerjeep und fahre an die Stelle,, wo ich ihnen begegnet bin. Die Erinnerungen laufen dann wie Filme. Tief von innen kommt ein weiches Lachen und Tränen. Dankbare.

Ich hatte mich direkt nach Ende des Sozialpädagogikstudiums für Psychologie eingetragen und bekam direkt den Studienplatz an der Ruhruniversität. Im 1. Semester erarbeitete ich mir Überstunden und fuhr an den gewonnenen Tagen zur Uni, um eine Orientierung zu bekommen. Das fiel mir leichter, weil ich ja schon die Erfahrungen eines Studiums hatte. Das 1. Semester war sowieso nur Orientierung – im 2. Semester musste ich aber ein Pflicht-Experimental-Praktikum machen. Die Versuchsgruppe nahm ich vom „Spielplatz“.

Das Timing klappte. Allerdings war meine Zeit auch voll ausgereizt.

Ende des 2. Semesters war Elke mit ihrer Ausbildung fertig und wollte nicht mehr in Dortmund bleiben. Ihr gefiel Dortmund nicht so wie Schwelm. Ich folgte meiner Liebe und tat den großen Spruch:“Iss egal, von wo aus ich nach Bochum fahre.“ Na ! Mal sehen…

Es ist 1977. Elke 27 Jahre. Jürgen 28 Jahre. Elke und ich sind veränderungserprobt. Wir suchen neues Leben. Für Elke ist es ein >Coming homemeine< Stadt geworden sein. Heute lebe ich 30 Jahre hier – länger als irgendwo anders. Ich lebe bewußt und sehr gerne hier. Es ist einfach schön.

Wir finden unsere 1. Schwelmer Wohnung in der Viktoriastr. 18 neben dem Arbeitsamt. Die Vermieterin ist eine OLD LADY, die uns zum Ersten-Eindruck-Gespräch in ihre 150 qm-Wohnung im selben Hauskomplex zum Cherry bittet. Soetwas kannte ich nur vom Fernsehen. Als sie erfuhr, dass ich Psychologiestudent war, sagte sie:“Ich freue mich schon auf ausgedehnte Gespräche beim Cherry über Freud und die Folgen…“ Wir fanden das beide KLASSE und verrückt und sagten sofort JA zu der Wohnung im hohen Erdgeschoss. Sie war wunderschön, diese Wohnung. Elke und ich bewiesen einen nahezu ähnlichen Geschmack – wie heute noch. Als ich am 1. Tag um 22.30 Uhr Haken in den Fensterrahmen hämmerte, schellte es kurz darauf. Ich hatte wohl noch immer die Sitten des Brennpunkts im Kopf und öffnete nur in Unterhose. Der Mieter unter mir stand da und bat, etwas böse, doch nicht mehr um diese Zeit zu hämmern. Als Student der Psychologie wußte ich bereits: nie in einer Unterhosensituation mit gleicher Münze oder unterwürfig kontern (das wirkt gestört). Ich sagte:“Ihre Frau ist aber freundlicher…“ Er entschuldigte sich. Ich lächelte und hämmerte nicht mehr.

Es war eine Zeit des SEHR VERLIEBTSEINS – wie es sich gehört. Wir richteten unsere erste gemeinsame Wohnung ein. Unsere Geschmäcker waren sehr ähnlich – heute noch.

In dem Schlafzimmer waren riesige Holzbetten aus den 40er-Jahren und große, massive Schränke mit vielen, geschliffenen Spiegeln: ein Traum. Im Wohnzimmer weiße Kalksandsteine und darauf eine schwere Glasplatte (eigene Erfindung). Was habe ich mich an der Glasplatte gestoßen. Schlechte Idee! Ein großer Barock-Gold-Bilderrahmen ohne Bild: wir sagten, das ist die Freiheit des Betrachters. Alle schwiegen. Im Arbeitszimmer ein alter Holzschreibtisch mit geschnitzten Türen von einem Soester Bauernhof – schreibe ich heute noch dran – gerade. Daneben ein Möchsbett aus dem Kloster Recklinghausen-Hochlarmark. Das Kloster wurde aufgelöst – Spielplatzeltern gaben mir den Tipp. Ich war der Erste und nahm das Eichenbett des Abtes. Wunderschön! Es steht seit 1989 in unserem Inselhaus-Schlafzimmer auf Schiermonnikoog.

Die Rauhfaser der Küche brannte sich dem Betrachter grell himbeerfarben in die Augen. An der Wand klassisch weiße Hänger aus den 70er-Jahren. Das beruhigte die Himbeeren etwas. Das beste war das Zentrum: der dicke Kneipenstammtisch – Echtholz – rund und wahnsinnig massiv. Ein Abschiedsdanke für 7 Jahre Dortmunder-Norden-Jugendarbeit. Er steht 1,50 m hinter mir – immer noch. An seinem gewellten Rand ist immer noch himbeerfarbene Plakafarbe aus dem Jugendzentrum.

Im Arbeitszimmer ein riesiger Spiegel mit Kapitel – Mordsding. Hatte Elke als einzigen Gegenstand aus Berlin mitgebracht – nach Dortmund-Hacheney (Bauernhof), Schwelm-Viktoriastr. 18. Jetzt steht er in unserem Flur mit ungebrochener Schönheit.

Elke und ich nehmen seelenverwandte Gegenstände mit durch unser Leben. Sie zeigen unseren Weg. Das ist sehr typisch für uns beide. Wir leben mit Gegenständen, die im Laufe der Zeit alle eine starke Bedeutung für uns hatten. In jeder Wohnung arrangieren sie sich neu – wie wir. Neues kommt hinzu.

Die 1. Hälfte des Psychologiestudiums ist BÜFFELN. Viel Grundlagenwissen. Ich sauge diese Welt auf, will wissen, was die Psychologie „so alles `drauf hat“.

Sehr schnell bin ich mit Horst Mallin, Christoph Stiebing und Hans Horst Hoferichter in einer Arbeitsgruppe. Wir sind bis zum Vordiplom unzertrennlich, teilen uns das Lernen, feiern grenzwertige Feten und reden über Gott und die Welt – auf einem anspruchsvollen Niveau (wie wir behaupten). Das Studentenleben mit einer solchen Gruppe gibt Orientierung, 4 x 2 Augen sehen mehr als 2 allein, es gibt den Halt und die Rückversicherung einer kleinen Truppe im Dschungel der UNI BOCHUM.

Wir haben gelacht, geflucht, gebüffelt, Königs Pilsener vom Faß getrunken und unsere Frauen geküßt – manchmal, aus versehen, andere.

100e von Annekdoten, Geschichten, Wissen (trocken oder saftig). Ich genieße es mit jedem Pulsschlag, Psychologie zu studieren, sause auch `mal allein in Seminare über Hirnforschung bei den Medizinern, bringe meine Biologiekenntnisse auf den richtigen Blickwinkel und lerne meinen späteren Lieblings-Prof. kennen, bei dem ich meine Diplomarbeit schreiben werde. Prof. J. Delius, gebürtiger Argentinier, studierte in Oxford, Biologe, Verhaltensforscher, Freund von Konrad Lorenz, selber einer der führenden Taubenforscher, Foschungsaufträge der NASA. Im Studium rauche ich Selbstgedrehte – danach nie wieder.

Elke macht alles mit. Super.

Die Zwischenprüfungen bedeuten: wer das Vordiplom schafft, kommt in die hochinteressante Abteilung des Hauptstudiums. Ich unterschätze STATISTIK, weil ich in Mathe immer sehr gut war. Sorry. Durchgefallen. Ich begebe mich freiwillig ins Exil – Elke`s Eltern haben in Scharbeutz eine Eigentumswohnung – Swimmingpool, Sauna.

WAS FÜR EIN LEBEN !

In den ersten 2 Tagen besuchte mich Werner Hinzmann, ein Rübezahl von einem Typ und Harley Freak. Er kannte Gott und die Welt. So landeten wir am frühen Abend bei einem Lübecker Zuhälter und Harley Fahrer, der in einer alten Fabrik am Hafen wohnte. Außen unscheinbar – innen Barockschloß. Die wuchtigen Möbel hatte er von einem Zigeunerfürsten bis zu seinem Tode geliehen bekommen. Meine Augen traten aus ihren Höhlen. Auf einem riesig langen wuchtigen Holztisch lagen Würste, Würste und Würste, ganze Käselaiber.. ganze Schinken.

Ich fragte dumm:“Kommt noch jemand ?“ und wurde gar nicht wahrgenommen, weil Werner und der Lude schon mit ihren enormen Messern in die Würste schnitten, um dann die Messer in den Tisch zu hauen. Barbaren! Ich dachte da kurz an meinen Schwiegervater, der für diesen Zweck putzige Messerbänkchen aus versilberten Leoparden hat. „Haut rein!“ eröffnete der Lude mit vollem Mund. Ich versuchte einfach, nicht wie einer vom Lande auszusehen.

Nach dem Essen ging es in eine Rotlichtkneipe. Ich fragte Werner, was wir machen ? „Er will noch ein paar Frauen mitnehmen – zum Feuerwehrfest.“ Ich war gespannt. Denn diese Gesellschaft versprach, nicht langweilig und trocken zu werden – so wie ein Büffeln für die Statistikklausur. In der Kneipe stand ich dann auf einmal neben Peter Pagel – Ex-Catcher und stellte eine einzige – aber die einzig blöde Frage:“ Machen die Catcher eigentlich im Kampf ernst ?“ Von da an war alles sehr unterhaltsam – nur nicht für mich. Er nahm mich in den Schwitzkasten, warf mich auf einen Tisch, auf den Tresen, auf den Boden und erklärte mir immer, wie ich mich entspannt verhalten müsste, damit ich mir nicht etwas tue. Ich war nicht entspannt, schrie: „Werner! Mach was.. eh, Werner.“ Der dachte gar nicht daran, er fand gerade seine Nachbarin interessanter als meinen Überlebenskampf. Verräter! Feigling!

Wir landeten im Brokat-Samtvorhang der Eingangstür und rissen ihn zu Boden. Jetzt Griff die Chefin ein und pfiff Peter Pagel zurück. Ich schaute vollkommen erschöpft P.P. an und hauchte:“Verstehe!“ Wir blieben Freunde, glaube ich. Danach ging es mit 5 Prostituierten, Werner, Peter Pagel, dem Luden und mir in einem Kleinbus zum Feuerwehrfest. Kaum standen wir an den Tresen, waren die auch schon voller Bier. Boaahh ! Alles umsonst. „Man muss nur mit den richtigen Leuten kommen,“ dachte ich. Als die Feuerwehrleute schon sternhagelvoll waren, Werner und der Catcher zum x-ten Male mit einem Hebegriff umfielen und durch eine Pendeltür krachten, kam eine bezaubernde Frau auf mich zu und bat mich zum Tanz. Ich war nüchtern und konnte tanzen.

Ich bestand die Statistik-Klausur und die anfolgenden 7 Vordiplomsprüfungen. GESCHAFFT !

Jetzt konnte das schöne STUDENTENLEBEN beginnen !

Und die Highlights kamen: ich machte meine Trainerausbildung im Autogenen Training und meine Ausbildung in Klassischer Hypnose neben dem Studium. Im Studium selber legte ich mich fachlich auf KLINISCHE PSYCHOLOGIE fest. Das taten damals 70 % aller Psychologiestudenten, weil die Studieninhalte hier auch praktische Therapiemethoden beinhalteten.

2 Professoren haben mich stark beeindruckt und beeinflußt:

der eine ein verrückter, welterfahrener Verhaltensforscher und spitzbübiger Typ mit höchstem schauspielerischen Vorlesungsvermögen, dass die Hörsäle überquollen und tobten: Prof. Dr. Julian Delius.

der andere ein Physiker und Mediziner, ein Weiser, ein Milder, ein Mensch, dem ich mich sehr gern anvertraute: Prof. Dr.Dr. Walter Niesel.

Bei Herrn Delius schrieb ich persönlich meine Diplomarbeit: eine Ehre und ein von mir gewollt-erhoffter Schachzug. Ich konnte alles in einem halben Jahr abschließen, weil er keine Lust hatte, „lange Fisematenten zu machen.“ Dadurch konnte ich 1 Jahr Erwachsenenbildung machen und Geld für meine Hypnoseausbildung verdienen. Das klappte. Am Studienende hatte ich 5 Zusatzausbildungen, die andere sich teilweise nach dem Studium für mehr Geld holten. Dieser Schachzug war durch die Erfahrungen aus dem 1. Studium begründet: Mache, was notwendig ist KURZ und sorge rechtzeitig vor. Das hat mir auch später immer geholfen.

Das Hauptstudium PSYCHOLOGIE war genau mein Ding – meine 1. und zweite Haut. Ich steckte mir die Inhalte so zusammen, dass ich die Pflichtteile schnell weg hatte und mir viel Zeit für Dinge nahm, die sich wirklich nur in der Studentenzeit durch das ganze Unidrumherum öffneten. Meine Gabe zum Entertainer und Allesmitmacher erlebte hier die 1. wirkliche Hochzeit. Wauuuuuuu !

Es war wie ein dauerndes Schwebegefühl. Ich war stolz, Student der Psychologie zu sein / ein König war arm dagegen – ich war FREI. Unbezahlbar. „Standesgemäß“ fuhr ich jetzt nicht mehr meinen heißgemachten Opel Ascona mit dicken Schluffen und Kotflügelverbreiterung / metallicgrasgrün, sondern einen VW-Postpaketwagen (Harley-Werner auch), den ich mit einer Tapezierrolle schwarzmatt rollte – innen postgelb – 1 Sitz – ein zweiter vom Schrottplatz geholt – hochgebockt. Die hintere Kastenausbeulung mit schwarzer Teppichschlaufe ausgelegt – Winkeleisen innen, um eine Liegeplatte aufzulegen (Urlaube in Schweden und Norwegen folgten mit diesem Modell / spartanischer als ein Trabbi). Werner schnitt 2 Kadettfenster in die Seiten: „Damit ihr `was Licht habt!“ Fertig war das einzige Auto seiner Art auf der ganzen Welt. Mein Gott! Wie toffte UND mit Standheizung und riesigen Schiebetüren .. Sein ofizieller Name: VW Typ 147 , FRIDOLIN. Wer mehr wissen möchte: www.vw-fridolin-ig.de

Dieses Auto war von so hohem Wiedererkennungswert UND PRAKTISCH, pflegeleicht, viele Reperaturen konnten wir selber machen, dass mein ABENTEUERKLUGER Schwiegervater sofort einen mit, in Dortmund, bei der Versteigerung der Post, sich ergatterte und ihn als Firmenwagen zu Fernsehtransporten einsetzte. EIN TOLLES AUTO !

Mit ihm und seinen 34 PS machten wir die erste Reise nach Skandinavien. Er tuckelte über norwegische Bergmassive (damals gab es noch kein Handy / bei einer Panne wären wir der Ötzi-Sammlung ergänzt worden, falls das Benzin der Standheizung alle gewesen wäre). Der Wagen hatte eine riesige Frontscheibe und kerzengrade Sitze – eigentlich nicht zum Sitzen – mehr für Paketzulieferer und deren Rein-Raus. Wir standen neben beeindruckenden Wasserfällen und ließen uns von dem gewaltigen Rauschen in den Schlaf führen. Wer ´mal mit 34 PS über mächtige Serpentinen / Pässe gefahren ist, weiß, dass man soviel Zeit wie ein Fußgänger hat, um die Landschaft zu beschauen – das ist meditativ – äußerst. Da standen wir beide sehr `drauf – noch heute.

Nebenbei habe ich bei meinem Lieblingsprof. Walter Niesel meine Ausbildung zum Trainer AUTOGENES TRAINING gemacht und gleich danach – weil meine Neugierde nicht aufhörte, KLASSISCHE HYPNOSE angehängt. Walter Niesel war die zweite Schülergeneration des Berliner Psychiaters I.H. Schultz, der 1926 das Autogene Training „erfand“, was heute die umfassenste Entspannungstechnik weltweit geworden ist. Tagsüber war ich Student und lernte und abends war ich Kursleiter und gab mein Wissen an andere weiter: 10 intensive Jahre, in 15 Städten, mehr als 180 Kurse. Es war wie ein Rausch – das war und ist einer meiner Leidenschaften: Gruppen.

Es war eine Zeit des ERLEBENS, was alles geht. Es war ganz wenig die Frage, was nicht geht. Eine Zeit, in der jeder Tag voller neuer Eindrücke war – wenig Wiederholungen. Sprechen machte das Erlebte RUND. Wir wollten lieber knapp an der Grenze VERRÜCKT sein – als voll NORMAL. Es ist uns bis heute gelungen. Wir versuchen durchzuhalten. ES IST SO GUT!

Irgendwie war alles wie ganz großes Kino – und: wir waren im Film. Ich fand, dass wir ein schön anzusehendes Paar waren – von außen und innen. Es war unsere Zufriedenheit, die strahlte. Wer so strahlt, hat auch Neider. Ich hörte sie geduckt am Wegesrand flüstern:“Mein Gott! Die haben ja auch unverschämtes Glück…“ Ich habe selten ein Kommentar dazu abgegeben. „Rechtfertigung,“ sagen die Psychologen,“ ist die Sprache der Verlorenen.“ Allerdings schrieb ich in dieser Zeit meine erste Kurzgeschichte. Sie handelte von einem sonderbarem Fluggerät, das eines Tages auf dem Schwelmer Altmarkt gelandet war – aus dem abends hüpfend eine Gestalt entwich, die laut murmelnd durch die Fußgängerzone torkelte:“Glück muss man können..Glück muss man können…“ Ich erinnerte mich an die Sätze meines Großvaters:“Jeder ist seines Glückes Schmied“. Danke, OPA.

Im Studium wählte ich den Schwerpunkt KLINISCHE PSYCHOLOGIE, weil die Semiare und Vorlesungen sich sehr interessant anhörten und weil meine Kumpels es auch taten. Gerade zu Beginn gönnte ich mit ein Semester Hirnforschung bei den Medizinern – nur so. Es war SEHR interessant. Noch heute interessiert mich das Thema von der psychologischen Seite, NEUROPSYCHOLOGIE genannt. Es war eine Zeit, in der ich mir vorkam:“Boahhh, ist alles interessant.“ Ich begann ein Genußmensch zu werden.

Mit 28 Jahren hatte ich schon eine Anzahl größerer Lebensverantwortungen hinter mir, was mich innerlich stolz und stark machte. In der Kindheit lernte ich in den Hinterhöfen der Zechenhäuser, was man machen muss, um nicht immer als Doofer heulend nach Hause zu kommen.

Als Jugendlicher mußte ich sitzen bleiben, um ein anderer Schülertyp zu werden. Mit Stolz war ich so auch noch mit 15 Kapitän unserer Handball-Schulmannschaft und hatte begriffen: Leben hat mehrere Ausgänge. Ich darf nicht doof stehen bleiben und in mich hinein heulen.

Der junge Soldat bekam ein anderes Pflichtsystem als Schule zu spüren. In der ersten Hälfte war ich noch der „alles-mitmachende-Kumpel“ – danach nahm ich mich an der Hand, gebrauchte meinen Verstand und wurde vortrefflich geleitet.

Ich machte Pläne für mich,die immer eine Nasenlänge vor den Auswirkungen von hirnverbrannten Befehlen lagen. Lernte, in dieser Umgebung Pläne nicht als solche erkennbar werden zu lassen.

Mit fast 22 Jahren aus freien Stücken zu heiraten, nur weil ein Freund sagte, er täte es auch, hat was. Keiner regte sich damals auf. Alle spielten mit.

Ich war alles, nur kein Ehemann. ABER: ich war ein verantwortungsvoller, flippiger Vater. Dreieinhalb Jahre später war alles zu Ende. Es war der erste große Tiefpunkt in meinem Erwachsenenleben. Ich erinnerte mich an das Sitzenbleiben und änderte ALLES in meinem Leben.

Als ich gerade erfolgreich begonnen hatte, aus Verzweiflung nicht jede x-beliebige Frau zu küssen und mit ihr Adam und Eva zu proben, begegnete ich ELKE. Es war so heftig, dass ich wie ein Pustekuchen vor meinen Freunden winselte:“Ich liebe sie.“ Jetzt sind wir 35 Jahre ein Paar. MENSCHEN und DINGE, die ich liebe, bleiben bei mir. Ich liebe Freiheit und gebe sie.

Die letzten 4 Semester des Studiums waren, mehr als vorher, die Planung eines eigenen Weges: dabei kam mir alles zugute, wie ich in meinem Leben vorher war. Ich musste zeitnah wichtige Entscheidungen treffen, fachliche Wege vorbereiten und gehen, Nebengleise als solche verstehen und nur manchmal benutzen, mir selber klare Ziele geben, die nicht weiter entfernt lagen, als mein Atem lang war. Sicher spürend, welchen Weg ich will. Ich war stolz. Die Fähigkeit des Planers bekam Lorbeeren. Nie vergaß ich, meine Liebe zu küssen. Ohne, dass mich jemand erinnern musste. UND: ich war schnell – weil ich selbst unwichtigere Dinge schnell zum Abschluß brachte und meinen Kopf schonte.

1 Jahr vor Ende des Studiums (1981) gründete ich zusammen mit meiner Frau Elke und 8 weiteren Studienkollegen die gemeinnützige Bildungseinrichtung DAS HAUS e.V.,
die schon nach 2 Jahren weit über die Grenzen Schwelms bekannt wurde.

Ein kleines, 300 Jahre altes Fachwerkhaus im Hinterhof der Weststr.4a.

Seminare, Kurse, Vorträge, Workshops, Freizeitgruppen aus Psychologie, Medizin, Pädagogik, Kunst, handwerklichen Bereichen, Reisen mit bis an 60 Teilnehmern auf Bauernhöfe in NL. Die Zauberformel war: es traf den Nerv von Kleinstadtbewohnern, die den Wunsch hatten, den Großstädtern `mal voraus zu sein. Das Team bestand anfangs aus beruflich noch nicht gebundenen, fast fertigen Studenten, die den Wunsch nach der Umsetzung einer damals noch nicht dagewesenen Idee hatten. Es war wie eine riesige WG. Es zog auch Berufler an, die abgenervt als Maschinen versauerten.
Wir waren 20 Jahre für viele Entwicklungen im Ennepe-Ruhr-Kreis die Anstoßer und Vormacher. Heute sind viele Dinge Gang und Gebe.

Selbsthilfegruppen zu diesen Themen (das erste Mal), Lenkdrachenflug – Kurse , Vereinsgründung u.a.m.
..ausgefallene Dinge, die eine Gegend von vielen, enganliegenden Kleinstädten noch nicht gesehen hatte.

Wir machten Ideen wahr.

108 Mitarbeiter in 20 Jahren. Ich war ein >primus inter pares< Der Erste unter seines Gleichen. Es hat meinen Blick über die Grenzen der Psychologie am meisten beeinflußt. Es entstand ein Netzwerk, in dem ich heute, nach 30 Jahren, immer noch lebe und arbeite. Eine Zeit, wie keine Zweite.

Die Idee hatte Elke im Sommer 1981 an der Brodtener Steilküste (Ostsee). Vier Monate später hatten wir das Team von 30 Interessierten auf 10 reduziert und DAS HAUS in den schrillsten Anstrichen total aufgemöbelt, Böden erneuert, Dachböden entrümpelt, Kamine stabil gemauert. Ich glaube, wir waren in vielen Augen die großen Kinder, die hemdsärmelig Dinge angingen, Kohleöfen vor den Kursen im Winter befeuerten, die Kurse auch mit Eisblumen an den Fenstern machten.

Wir hatten einen Bärenspaß und spürten, dass wir total geliebt wurden. Das trieb uns zu immer neuen Verrücktheiten mit Hand und Fuß.

Carmen Thomas vom WDR 2 kam mit dem HALLO Ü – WAGEN zu uns mit dem Thema „Was tun wir – was tut der Staat“. Das war ein  O r d e n .